Untergrundbewegungen im Widerstand gegen die Autorität und Aufbau von Gegenkulturen in den deutschsprachigen Ländern des 20. Jahrhunderts

Untergrundbewegungen im Widerstand gegen die Autorität und Aufbau von Gegenkulturen in den deutschsprachigen Ländern des 20. Jahrhunderts

Veranstalter
CELEC
Veranstaltungsort
Université Jean Monnet
Ort
Saint-Etienne
Land
France
Vom - Bis
06.04.2012 - 06.04.2012
Deadline
30.06.2011
Website
Von
Ulrich Pfeil

Der Ausdruck „Gegenkultur“, Neologismus, der oft dem amerikanischen Soziologen Theodore Roszak zugeschrieben wird, welcher ihn 1969 benutzte, um die Protestbewegungen zu beschreiben, die die studentischen Aufstände der 50er- und 60er-Jahre vorbereitet und begleitet hatten, bezeichnet gewöhnlich eine Auseinandersetzung mit dem als „vorherrschende Kultur“ oder mainstream betrachteten Wertesystem der Mehrheit. Obwohl dieser Begriff auf keine spezifisch deutschen Begebenheiten hinweist, kann man nicht umhin festzustellen, dass die zeitgenössische Epoche jenseits des Rheins zu einem Schauplatz etlicher, recht utopischer Versuche oder kultureller Projekte geworden ist, die darauf abzielten, die amtierende Autorität oder das jeweilige Regime (Wilhelminisches Reich, Weimarer Republik, Drittes Reich, DDR oder BRD) und seine wichtigsten Stützen in Frage zu stellen, ohne sich deswegen für parteiischen Aktivismus zu entscheiden. Aus verschiedenen Gründen, je nach Epoche, haben sich die Vertreter dieser Gegenkulturen in eine zwiespältige Haltung geflüchtet ; mit einer Lage konfrontiert, die sie als ausweglos betrachteten, haben sie den traditionellen politischen Kampf aufgegeben und versucht, die Grundlagen des bestehenden Regimes durch alternative Aktionsformen zu erschüttern.

Während des gesamten 20. Jahrhunderts haben die Untergrundbewegungen unterschiedliche Erscheinungsformen angenommen, angefangen von einer tiefgehenden Beeinflussung der einzelnen Individuen durch eine bestimmte Körperkultur oder durch die Reform von Lebensweisen, bis hin zur Errichtung von idealen Mikrogesellschaften, über rein ästhetische Formen des Aufstandes, die sich an kleinere Kreise Eingeweihter richteten. Für die Träger dieser mehr oder weniger komplexen Projekte verfolgte die Gegenkultur gewöhnlich ein doppeltes Ziel. Mit einer unterdrückenden Ordnung konfrontiert, die sie nicht stürzen können, täuschen sie Zustimmung vor und unternehmen den Versuch, sich im Rahmen einer „Nischenkultur“ für die ihnen verweigerte Freiheit zu entschädigen; oder sie versuchen wirklich, auf die sozialen Begebenheiten indirekt und unter Bevorzugung langfristiger Aktionen einzuwirken. Diese beiden, sich keineswegs widersprechenden Haltungen können sich sogar in der Bildung von wahrhaften „Laboratorien“ einer neuen Gesellschaft vereinigen, wie es innerhalb der Lebensreformbewegung die Beispiele der Gartenstadtsiedlung Dresden-Hellerau, der alternativen Kolonie vom Monte Verità nahe Ascona in der Schweiz oder auch der berühmten, 1967 als Gegenmodell für das bürgerliche Ideal der Familie gegründeten Kommune I zeigen.

Diese internationale und mehrdisziplinäre, im fünfjährigen Forschungsplan des CELEC zum Thema Autorität eingetragene Tagung hat natürlich nicht die Absicht, das Thema erschöpfend zu behandeln. Aus dem Untersuchungsfeld ausgeschlossen seien einerseits alle Kampfformen, die sich unmittelbar aus der politischen oder terroristischen Praxis ableiten lassen, andererseits künstlerische Avantgarden, die sich vor allem mit der Herstellung neuer ästhetischer Schaffensformen befassen; alternative Formen des Einwirkens auf die Gesellschaft (und der Selbstentschädigung) sollten im Vordergrund stehen. Über die Analyse der sozialen Bedingungen für das Auftauchen solcher Bewegungen hinaus soll diese Haltung auf ihr ästhetisches Potential hin befragt und die Frage nach einer möglichen intellektuellen Verwandtschaft zwischen diesen unterschiedlichen Sub- und Gegenkulturen gestellt werden, die Deutschland im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Inwiefern können diese Widerstandsgruppen, seien sie apolitisch, links- oder rechtsorientiert, gemeinsame kulturelle Bezugssysteme haben und sich in dieselben Traditionslinien einfügen? Gibt es zwischen ihnen so etwas wie eine Übertragung bestimmter kultureller Erbgüter? Und gibt es unter diesem Gesichtspunkt spezifisch deutsche Merkmale für Gegenkulturen im Vergleich zu anderen Gegenkulturen, so wie z.B. die der Beatniks in den USA?

Überträgt man diese Fragestellungen ins Literarische, erweisen sie sich als besonders aufschlussreich. Unter dem Einfluss der Denker der Frankfurter Schule, besonders Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse wird das Schreiben zu einer Waffe, die danach strebt, das herrschende Bewusstsein zu ändern und anzukämpfen gegen das Eindringen von einer entfremdenden, verdummenden Massenkultur in der BRD, gegen die Vorherrschaft des sozialen Realismus, der den Künstlern der DDR von oben aufgezwungen wird. Auf welche Aktionsmittel können die Verfechter einer Gegenkultur zurückgreifen angesichts der Geschlossenheit und der Stabilität der Strukturen des Literaturmarktes, z.B. in den Bereichen des Verlagswesens und der Werbung?

Was das intellektuelle Leben in der DDR angeht, könnte man sich z.B. mit solchen Begriffen wie „Boheme“ oder „Ergänzungskultur“, die an einigen Denkgemeinschaften haften, beschäftigen. Angesichts der komplexen und zwiespältigen Beziehungen zwischen Gegenkultur und offizieller DDR-Kultur scheint es angebracht, die Begriffe „Subkultur“ und „Gegenkultur“ auf ihre Triftigkeit hin zu untersuchen, beides Begriffe, mit denen das Phänomen der Prenzlauer Berg Szene im Ostberlin der 80er Jahren bezeichnet wird, welche Wolf Biermann 1991 als „blühenden Schrebergarten der Stasi“ beschreibt. Sind diese zwei Ausdrücke als Synonyme aufzugreifen (wie es z.B. der niederländische Germanist Gerrit-Jan Berendse tut)? Oder ermöglicht ihre Unterscheidung im Gegenteil, verschiedene Formen oder aber auch eine Entwicklung des literarischen Widerstandes gegen die Autorität zu definieren?

Schließlich können sich unsere Überlegungen der Kritik dieser subversiven Bewegungen zuwenden, deren zur Schau getragener unpolitischer Charakter nicht immer überzeugt hat. Diese oft als elitär bezeichneten Haltungen wurden manchmal sogar dessen bezichtigt, das vorhandene System indirekt zu stärken, und zugleich Abkapselungen der Gemeinschaft außerhalb der Gesellschaft zu fördern sowie eine Ventilfunktion auszuüben, die die soziale Wirklichkeit erträglicher erscheinen ließ. Stellen die Möglichkeit einer Rückkehr zur Ordnung, die bescheidene Integration in die vorherrschende Kultur oder sogar die „Vermarktung“ der Gegenkulturen die Gültigkeit dieser Aktionsformen in Frage? Welchen Widerhall und welches geistige Erbe können wir den deutschen Gegenkulturen des 20. Jahrhunderts zuordnen? Sind sie außerhalb des Systems, aus dem sie hervorgegangen sind, lebensfähig, wie man es sich angesichts der Tatsache, dass die Prenzlauer Berg Szene mit dem Fall der Berliner Mauer verschwunden ist, fragen darf?

Jeder Teilnehmer verfügt beim mündlichen Vortrag über ca. 30 Minuten. Eine Publikation in der Onlinezeitschrift Cahiers du CELEC (http://cahiersducelec.univ-st-etienne.fr/) oder in Form eines Sammelbandes ist vorgesehen. Reise- und Unterbringungskosten können im Rahmen der eingeworbenen Drittmittel erstattet werden.

Programm

Kontakt

Olivier Hanse

CELEC, UJM-Saint-Etienne
35, rue du 11 novembre; F-42023 Saint Etienne cédex 02

olivier.hanse@univ-st-etienne.fr


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Französisch, Deutsch
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